Hängengeblieben, aber mühsam geht es weiter (Teil 7.5 von „Mein Weg ins Leben“)

„Weiter, weiter“ gilt nicht nur für die Reise der gegenwärtigen deutschen Schul- und Erziehungspolitik ins Verderben, sondern auch für den Roman, den ich über meinen „Weg ins Leben“ schreibe.

Ich habe diesen Titel dem „Pädagogisches Poem“ von Anton Semjonowitsch Makarenko entlehnt, wo er so als Untertitel vermerkt ist. Ich bin ein Spätentwickler und war mit 50 beruflich immer noch auf dem Weg.

Auch privat-familiär bin ich noch nicht sicher angekommen. Zum Glück hatte ich Kinder „zustandegebracht“, sie nicht nur gezeugt, sondern auch geprägt und auf entscheidende Weise mit aufgezogen. Das ist schon einmal eine große Lebensleistung.

Mit den Frauen hatte ich weniger Glück. Eine sanfte und anhängliche hatte ich missachtet und laufen gelassen; sie war mir nicht „sexy“ genug. Mit den anderen gab es immer wieder mehr oder weniger erbitterte Kämpfe, so wie ich sie mit Cornelia im letzten Teil 7.4 von „Mein Weg ins Leben“ beschrieben hatte.

Lag das an mir? War ich wirklich so dominant? Eher war es wohl so, dass zwei, die genau wussten, was sie wollten, jeweils zusammengetroffen waren. Ich beneidete die Männer um mich herum, (gute) Bekannte, Kollegen und auch welche aus der Familie, die Frauen hatten, die letztendlich, wenn es darauf ankam, zu ihren Männern hielten.

Ich meinerseits war überzeugt, dass ich das mit meinen Frauen ebenfalls tun würde, aber oft genug war der Bogen überspannt, für beide, das Maß der Selbstverleugnung erschien uns unerträglich geworden, und wir trennten uns lieber. Das war jedes Mal für mich eine große Niederlage. Denn ich wusste: Alles hat ein Ende und das Leben erst recht. Und je später im Lebenslauf Neuanfänge gelingen sollten, desto schwieriger würde es werden.

Ich hatte und habe eine große Sehnsucht nach Geborgenheit, nach einer existentiellen Solidarität, wie sie wohl nur in einer guten Ehe möglich ist. Ich will es immer noch und hoffe, dass mir das mit Cornelia gelingt. Allzu eindringlich stand und steht mir die letzte Strophe eines Gedichts von Rainer Maria Rilke vor Augen:

Herbsttag

„Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.

Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,

wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben

und wird in den Alleen hin und her

unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.“

Und genauso ein Gedicht von Friedrich Nietzsche:

Vereinsamt

„Die Krähen schrein / Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: / Bald wird es schnein. / Wohl dem, der jetzt noch Heimat hat!

Nun stehst du starr, / Schaust rückwärts, ach! wie lange schon! / Was bist Du Narr / Vor Winters in die Welt entflohn?

Die Welt – ein Tor / Zu tausend Wüsten stumm und kalt! / Wer das verlor, / Was du verlorst, macht nirgends halt.

Nun stehst du bleich, / Zur Winter-Wanderschaft verflucht, /Dem Rauche gleich, / Der stets nach kältern Himmeln sucht.

Flieg, Vogel, schnarr / Dein Lied im Wüstenvogel-Ton! – /Versteck, du Narr, /Dein blutend Herz in Eis und Hohn!

Die Krähen schrein / Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: / Bald wird es schnein. / Weh dem, der keine Heimat hat. /1/

 

Diese Gefühle und Gedanken belasteten mich, als sich direkt nach dem heftigen Streit mit Cornelia die Kollegen der erweiterten Schulleitung bei uns in der Pension einfanden. Es fiel mir schwer, mich zu sammeln und so leidenschaftlich, wie ich es wollte, für mein Schulprojekt einzutreten. Herr Karius, der Schulleiter, der noch im Amt war und dessen Nachfolger ich im nächsten Jahr werden wollte, hatte mich bei der letzten Sitzung der erweiterten Schulleitung in der Schule gebeten, näher auszuführen, wie ich das meine, dass Pädagogen mit Freude erziehen können müssen, sonst gelänge Erziehung nicht, und dass es aber andererseits falsch sei, zu glauben, die Schüler hätten einen Anspruch darauf, dass ihnen alles, was sie tun sollen, sofort Spaß machen muss.

Ich hatte in diesem Zusammenhang zwischen einem Spaß niederer (Sorte B) und höherer Ordnung (A) unterschieden. Diesen Unterschied, speziell, sollte ich auch noch einmal erläutern.

 

Das Schulcafe als Beispiel für die Pädagogik, die ich meine

Lassen Sie mich bitte „am Stück“ reden, liebe Kollegen, notieren Sie sich Ihre Fragen und Einwände und sagen Sie sie mir hinterher: „Erwachsene, auch Pädagogen und vielleicht sogar besonders diese, neigen dazu, Kinder und Jugendliche zu unterschätzen. Sie sollen nur überschaubare (Hilfs)Aufgaben ausführen, um sie nicht zu überfordern, denn es sind ja noch ‚Kinder‘, selbst 15-Jährige, und sofort sind die besten der Pädagogen zur Hilfestellung bereit wie ein besorgter Sportlehrer, der neben dem Barren steht und die waghalsigen Schwünge seines Schützlings beobachtet.

Das gilt auch im Privaten. Kinder dürfen zum Beispiel einzelne Geschirrteile nach draußen auf die Terrasse bringen, am besten aus Plaste, damit sie auch ja nichts kaputt machen. Aber selbst zu entscheiden, wann zum Beispiel in der Pfanne ein Eierkuchen gewendet werden muss, nachdem sie mehrere Male zugesehen hatten, und dann es tatsächlich auch noch selbst zu tun – das ist viel zu gefährlich. Das ‚Kind‘ könnte sich verletzen und die ekligen Fettflecken auf dem Küchenboden erst!

Die ‚Kinder‘ wollen ‚aber nicht geholfen werden‘, sie wollen nicht therapiert und erzogen werden von besorgten ‚Mutti-Nannys‘, auch männlichen, sondern selbst etwas in Gänze schaffen, sofern ihnen alles zur Verfügung steht, was sie dazu brauchen, vor allem den kindlichen oder jugendlichen Mitmenschen, das nötige Material und die Befugnis, innerhalb des gesetzten Rahmens selbst etwas zu entscheiden.

Ein Schulcafe gibt es schon hier, innerhalb der Kantine, es wird, wie ich erfahren habe, von zwei Erwachsenen geführt, die extra dafür angestellt wurden. Eine dieser Fachkräfte würde ich halbtags behalten wollen, aber nicht als verantwortliche Führungsperson des Cafes, sondern als gastronomischen ‚Fachberater‘ sozusagen. Im Unterricht soll es so sein, dass der Lehrer eindeutig der Boss ist, ihn in seiner Verantwortung „führt“ und Schüler von Fall zu Fall einsetzt, um ihm zu assistieren. Im Cafe soll es umgedreht sein.“

Ich sah Stirnrunzeln bei mehreren. „Bitte erlauben Sie mir noch ein Stück meiner Rede. Sie denken vielleicht, haben wir mit dem Unterricht nicht genug zu tun? Warum sollen wir uns solche zusätzlichen Aufgaben ‚an Land ziehen‘? Weil sie hoch pädagogisch sind, in ihrer erzieherischen Auswirkung für die Persönlichkeitsentwicklung effektiver als zig Unterrichtseinheiten! Und was unsere Schüler hier lernen als verantwortliche Chefs und Mitarbeiter des Cafes schlägt sich nieder im Unterricht als Verbundenheit mit ihrer Schule, als eine Art Eigentümerstolz, im Eigenen selbst etwas zu schaffen, was der Schule zugutekommt und als kleiner Zuverdienst auch den dort eingesetzten Schülern selbst.

Ausbeutung ist als Selbstausbeutung am effektivsten wie bei einem Handwerksmeister oder dem Eigentümer einer kleineren Firma, einem Bäckermeister zum Beispiel mit angeschlossenem Cafe. Das war der Grund, warum in der Menschheitsgeschichte die Sklaverei abgeschafft wurde. Man kann Menschen gar nicht so durchgängig beaufsichtigen, wie sie selbst motiviert arbeiten, wenn sie wissen, dass ihnen etwas gehört und dass sie selbst den Nutzen aus dem ziehen können, was sie geleistet haben. Deswegen letztendlich konnte sich auch der reale Sozialismus nicht gegen die freie Marktwirtschaft halten. (Diese mutiert inzwischen selbst zu einer Art grüner Planwirtschaft. Es wird sich die Art des Kapitalismus durchsetzen – das aber jetzt nur nebenbei -, die die Chinesen immer effektiver praktizieren, auch weil sie dabei die Nation, ihre, mit dem Markt, auch dem der Welt, verbinden.)

Davor war ich bei der Abschaffung der Sklaverei. Die leibeigenen Bauern im Feudalismus danach mussten zwar das Meiste ihren Gutsherren und der Kirche abgeben. Aber einen kleinen Teil konnten sie immerhin behalten und das reichte schon aus als Motivation, bis an die Grenze des ihnen Möglichen zu arbeiten. Das ist ein allgemeines Lebensgesetz, es gilt auch für Schüler, zumindest die älteren. Das ist sozusagen positiver Stress. Da verkraften Menschen viel mehr, als wenn sie nur unter Zwang und Aufsicht arbeiten.

Eigentümerstolz, der diesen positiven Stress ermöglicht, ist eine Haupttriebkraft des Lebens, behaupte ich. Abgeleitet davon sind auf einer zweiten Stufe ‚Sekundärtugenden‘ wie die Ausdauer, der Wille und die Fähigkeit, etwas gründlich fertig zu stellen, bevor ich eine Pause mache oder ‚für heute Schluss‘. Auch der Wille und die Fähigkeit, sich dazu einzuordnen in eine Gemeinschaft, gehören dazu und dazu wiederum die Bereitschaft, nicht problem-, sondern lösungsorientiert zu denken: Nicht lange erklären, warum etwas nicht geht, sondern weit drumherum schauen, wie es trotzdem gehen kann.“ …

Eine Pause trat ein und Cornelia scherzte: „Soll ich Ihnen sagen, worum es am allermeisten geht? Um schmackhafte Torten, die mein Mann selbst am liebsten isst!“ – „Ja, das gebe ich zu, darum geht es auch. Ich bin überzeugt, dass wir Menschen nur dann richtig uneigennützig sein können, wenn wir selbst von dem, für das wir uns scheinbar aufopfern, auch etwas haben. Aber das gilt nicht nur für mich oder die Lehrer-Gilde der ‚alten Knacker‘, Entschuldigung, wenn ich meine Eigenart, mich selbst auf die Schippe zu nehmen, auf Sie alle übertrage, also, das gilt nicht nur für uns, sondern noch viel mehr für junge Menschen, für unsere Schüler.

Sie können richtig uneigennützig sein, Leistung bringen, sich nicht schonen, wenn sie mit dem, was sie tun, auf eine innere Weise verbunden sind. Und ich behaupte, das ist so, wenn man selbst ‚Chef‘ ist, die Verhandlungen mit den Omas führt, welche Kuchen und Torten sie liefern bzw. vor Ort backen und welcher Schüler dabei ihr Lehrling ist, damit er ihnen in Zukunft einen Teil der Backerei abnehmen kann.

Das ist so, wenn man selbst, zusammen mit anderen verantwortlichen Schülern und mit Hilfe des ‚Fachberaters‘ die Preise kalkuliert, die Bedienungen einteilt und überlegt und entscheidet, in welcher Kleidung sie sich präsentieren sollen und wie sie sonst noch besonders charmant und kundenorientiert sein können. Für die Bedienung geht es dann nicht um ihre eigenen individuelle Wünsche, sondern um das Sich-Einordnen in ein großes Ganzes, nämlich möglichst viel Umsatz im Cafe zu machen, zum Geheimtipp der ganzen Gegend zu avancieren. (Wir werden schon allein deswegen viele Gäste haben, weil stolze Eltern und Großeltern, Onkel und Tanten und Freunde der Familien ihrem Besuch werden vorführen wollen, was das für ein exzellentes Cafe ist von der Qualität des Angebots her ebenso wie von der Qualität der Bedienung.)

Jeder ab der 6. Klassenstufe soll nur, sagen wir 3 x 2 Stunden pro Woche im Cafe (be)dienen, was gut schaffbar ist, aber in diesen 2 Stunden hat er Qualität zu liefern. Jeder, der im Cafe arbeitet, wird dort auch Gast sein. Dann ist er der „König“, dann geht es um seine individuellen Wünsche. Auf der anderen Seite der „Barrikade“ geht es aber um Dienst und um Pflicht und vor allem darum, ihn/sie mit Würde zu versehen. Das ist das Erziehungsprogramm, das ich meine und das wir in Deutschland so nötig haben. …“ Unruhe fing an, sich auszubreiten.

„Einen Moment noch, das muss ich noch sagen: Mit Würde zu dienen haben die Deutschen und hat vor allem die deutsche Jugend weitgehend verlernt. ‚Dienen‘ wird nur negativ gesehen. Heute sind fast alle Jugendlichen in Deutschland wie eine kleine Kaste verwöhnter junger Adliger aus der alten ‚Hohen Gesellschaft‘ von anno dazumal; sie sind nicht leistungsorientiert, sondern die persönliche Lust ist ihnen am wichtigsten, sie werden schnell mürrisch, wenn ihnen etwas in einem bestimmten Moment keinen Spaß mehr macht.

Ein riesiger, aufgeblähter pädagogisch-psychologischer Apparat will uns einreden, dass das normal ist. Es läge an der Pubertät und anderen psychischen Entwicklungsschwierigkeiten, die Jugendlichen konnten sich ja angeblich schon in der Antike nicht benehmen. Und dann wird Sokrates zitiert. Keinem fällt auf, dass ein führender Philosoph dieser Zeit nicht die Eigenschaften der Kinder der Sklaven und der sonstigen arbeitenden Klassen beschrieben hatte, sondern dass es ihm um die verzogene Brut der herrschenden Sklavenhalter ging. So weit sind wir also, dass wir heute das Benehmen einer großen Mehrheit mit der fläzigen Rücksichtslosigkeit einer winzig kleinen Kaste in der Antike entschuldigen müssen.

Aber dieser heutige Erziehungsnotstand ist für uns hier unsere Chance, sofern wir erziehen wollen und erziehen können, nicht durch ewiges Gerede, sondern durch Handeln für große Gemeinschaftsaufgaben: Wir haben an unserer Schule nichts Besonderes, außer viele junge Menschen. Das ist unser Humankapital, das ist ein riesiges Reservoire, ein Bodenschatz, den wir heben müssen. Sie werden sich die Erziehung unserer Art gefallen lassen, wenn sie merken, dass sie ihnen selbst nutzt. Sie eignen sich Verhaltensqualitäten an, die auch für ihr eigenes erfolgreiches Leben unverzichtbar sind: Jetzt geht es nicht darum, ob ich auf irgendetwas noch Lust habe, sondern dass ich meine Pflicht erledige für ein Ganzes, zu dem ich selbst gehöre.

Und außerdem, wie gesagt, kann ich ja die Rolle wechseln, und mich auch selbst mal bedienen lassen, nicht von den Erwachsenen wohlgemerkt, sondern von meinesgleichen.“ …

„Und jetzt wirklich nur noch eins: Nur Menschen, die psychisch satt sind, gelangweilt von immer neuen Angeboten, entwickeln die Launen- und Stimmungszentriertheit der westlichen Lebensweise. Sie ist ein riesiges Konjunkturprogramm für psychologische Beratungen und Therapien aller Art, aber sie macht Menschen letztendlich und insgesamt lebensunfähig, Sie ist der entscheidende Grund, dass wir den Systemwettbewerb mit den asiatischen Volkswirtschaften verlieren werden.“

Jetzt endlich waren die Kollegen nicht mehr zu halten. „Bevor die Diskussion los geht, trinken wir darauf, dass wir von dem ausgehen, wo wir zustimmen und was sich weiterführen lässt. Also auf das große JA, mit einem Aber hinterher, anstelle des Nein!“

Über diese Diskussion berichte ich im nächsten Teil (7.6) von „Meinem Weg ins Leben“.

 

Fußnoten

/1/ Das ist das gleiche Lebensgefühl wie im Lied „Gute Nacht“ von Franz Schubert (besser gesungen zu hören als nur zu lesen): „Fremd bin ich eingezogen / Fremd zieh‘ ich wieder aus / Der Mai war mir gewogen / Mit manchem Blumenstrauß / Das Mädchen sprach von Liebe / Die Mutter gar von Eh’… / Nun ist die Welt so trübe / Der Weg gehüllt in Schnee… / Es zieht ein Mondenschatten / Als mein Gefährte mit… / Und auf den weißen Matten / Such‘ ich des Wildes Tritt / Was soll ich länger weilen / Dass man mich trieb hinaus? / Lass irre Hunde heulen vor ihres Herren Haus / Die Liebe liebt das Wandern / Gott hat sie so gemacht / Von einem zu dem andern… /Fein Liebchen, gute Nacht / Will dich im Traum nicht stören / Wär schad‘ um deine Ruh‘ / Sollst meinen Tritt nicht hören / Sacht, sacht die Türe zu / Schreib‘ im Vorübergehen / Ans Tor dir ‚Gute Nacht‘ /Damit du mögest sehen / An dich hab‘ ich gedacht… An dich hab‘ ich gedacht“

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